Milchwirtschaft in Europa

„Wir arbeiten täglich gegen veraltete Narrative“

Zwischen der Vorstellung der Verbraucher:innen und der Realität auf den Milchhöfen klafft eine große Lücke. Das geht aus einer internationalen Verbraucher:innen-Studie des EU-Programms “Enjoy, it’s from Europe” hervor. In unserem Podcast sprechen Diplom-Psychologe Jens Lönneker und Branchenexpertin Melanie Wegener darüber, wie die Praxis tatsächlich aussieht und wie neue Narrative entstehen können.

96 Prozent der Menschen in Europa – also fast alle – konsumieren Milchprodukte. Die meisten von ihnen, weil sie sie als essenziell für ihre Ernährung erachten. Doch wie nachhaltig viele Milchwirt:innen ihre Höfe bereits führen, davon wissen die wenigsten. Laut einer europaweiten Umfrage des EU-Programms „Enjoy, it’s from Europe“ ist gerade einmal 16 Prozent bewusst, dass die Milchbranche aktiv daran arbeitet, ihre Emissionen zu verringern. Dabei wirtschaften sie bereits nachhaltig und ressourcenschonend.

Diese Wissenslücke, der Gap zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, hat Jens Lönneker intensiv erforscht. Der Tiefenpsychologe betreibt viel Forschung rund um Landwirtschaft. Seine aktuelle Studie „Zukunftsbauer“ stellt eine wichtige Frage, die die ganze Branche bewegt: „Wie kann die Wertschätzung gegenüber der Landwirtschaft gesteigert werden?“ Denn hier gibt es noch viel Unwissenheit und Aufklärungsbedarf. Das Problem beginnt bereits bei der Bildsprache, so Lönneker: Ein Landwirt kniet neben einer Kuh, Tier und Mensch in Symbiose glücklich vereint. “Das Motiv von Bauer und Kuh auf Augenhöhe soll vermitteln: Hier wird das Tier gut behandelt“, sagt der Studienautor. Die Bildsprache werde gezielt eingesetzt, um eine psychologische Wirkung zu erzielen. Denn sie entscheidet häufig darüber, was wir über moderne Landwirtschaft denken. Gekünstelte Bilder können die Realität verzerren und zu falschen Vorstellungen von Milchproduktion, Kuhhaltung und der Landwirtschaft als solche führen.

Veraltete Erzählungen aufbrechen 

Die Studienautoren haben vier große Narrative ausgemacht, also Erzählungen, mit denen sich Außenstehende ein Bild der Milchwirtschaft zurechtlegen. Diese Narrative basieren häufig auf persönlichen Eindrücken und Spekulationen. Ein Trecker mit Güllefass, ein Melkkarussell, TV-Sendungen wie “Bauer sucht Frau”. Schon entstehen Vorstellungen vom “dummen Bauern”, der seine “Tiere quält” und die “Umwelt verseucht” – wie es Lönneker in seinen vier Narrativen beschreibt. Und dann gibt es noch das positiv besetzte Narrativ des Ökobauern im Landidyll. Das beruht auf der eskapistischen Fantasie vom angenehmen Leben auf dem Land. „Hier werden persönliche Wünsche und Hoffnungen auf die Ökobauern projiziert. Das ist Bullerbü und hat mit landwirtschaftlicher Realität nichts zu tun“, so der Psychologe. Die Vorurteile werden dadurch begünstigt, dass es sehr wenig Berührungspunkte zwischen der Landwirtschaft und der restlichen Bevölkerung gibt.

Dagegen arbeiten Menschen wie Melanie Wegener proaktiv an. Als Kommunikatorin bei der größten deutschen Molkerei-Genossenschaft DMK vermittelt sie und klärt über moderne Milchwirtschaft auf. „Wir kämpfen tagtäglich mit diesen überholten Narrativen“, sagt Wegener. Viele Kinder wüssten nicht einmal mehr, wo die Milch herkomme. Dreiviertel der Menschen in Europa leben in Städten, ihnen fehlt der Bezug zur Landwirtschaft. Sie kriegen also selten mit, dass zum Beispiel immer mehr Milchhöfe technisch hochmodern ausgerüstet sind. Die Kühe können selbst entscheiden, wann sie gemolken werden, aus der Gülle wird in der Biogasanlage Strom hergestellt, uralte agrarische Kreisläufe werden durch Technologie optimiert. „Für viele Menschen bedeuten Technologie und Effizienz gleich schlechter Umgang mit Tieren. Dabei bieten gerade die modernen Höfe positive Effekte und Vorteile für die Tiere“, weiß Wegener. In der Öffentlichkeit herrscht zudem ein sogenannter Mind-Behavior-Gap, erklärt Lönneker: „Die Menschen fordern von der Landwirtschaft zum Beispiel Tierwohl oder Nachhaltigkeit ein. Aber wenn sie dann im Supermarkt einkaufen gehen, ist das vergessen. Sie sind oft nicht bereit, für Tierwohl mehr zu bezahlen oder ihr Kaufverhalten entsprechend anzupassen.“ Vorstellung und Verhalten passen also nicht zusammen.

Gemeinsam nachhaltig wirtschaften und konsumieren 

Schon deswegen ist es laut Wegener so wichtig, weiter aufzuklären, zu vermitteln, ein neues Narrativ der Milchwirtschaft zu schaffen. „Unsere Herausforderung ist es, die Brücke zu schlagen zwischen der Realität der Landwirtschaft und der Vorstellung der Verbraucher:innen.“ Der direkteste Weg: Beide Seiten zusammenbringen – auf den Höfen, auf Veranstaltungen, im digitalen Raum. “Auf europäischer Ebene laufen bereits viele Programme, zum Beispiel Transparenz-Initiativen zu Biodiversität oder CO2-Reduktion und Social-Media-Dialoge”, erzählt Wegener. Die Programme fördern den direkten Austausch und sie scheinen zu wirken. In Ländern wie Irland herrscht eine ganz andere Wertschätzung zur Landwirtschaft.

Auch in Deutschland werden durch die Kreislaufwirtschaft Ressourcen effizient genutzt und Abfälle wiederverwertet. Viele Landwirt:innen kultivieren ihre Futtermittel auf der Wiese nebenan und halten dadurch Transportwege kurz. Mit Programmen zum Emissions-Tracking optimieren die Höfe zudem ihre CO2-Bilanz. “All das passiert schon längst, das müssen wir nur stärker herausstellen”, findet Wegener. Hier wünscht sie sich von der Branche mehr Mut in der Aufklärungsarbeit. Wissenschaftler Lönneker plädiert dafür, attraktive Bilder für die Menschen zu finden, die jenseits der Landwirtschaft leben. Deswegen funktioniere auch Mr. Kuhl mit seinem Milch-Tanz so gut. Er bietet eine frische, emotionale Sicht auf die Milch.

Podcast #22: Wie nachhaltig ist die Milchwirtschaft in Europa?

Um diese diese Inhalte zu laden benötigen wir die Zustimmung zu funktionalen cookies. Entsprechende Datenschutzbestimmungen finden sie hier: https://www.initiative-milch.de/wir-brauchen-dein-einverständnis/

Zur Person: Melanie Wagner

Melanie Wegener gibt uns einen authentischen Einblick in die moderne Milchproduktion. Mit ihrem umfassenden Wissen über die Abläufe und Prozesse auf Milchhöfen und in Molkereien erklärt die Kommunikationsexpertin, was nachhaltige Praktiken in der Branche konkret bedeuten und wie hohe EU-Standards dabei eine Rolle spielen. Mit ihrer Expertise und dem Engagement der Branche gestaltet Melanie aktiv die Veränderungen mit, die bereits im Gange sind.

Zur Person: Jens Lönneker

Jens Lönneker ist Tiefenpsychologe und wirft als Narrativexperte einen scharfen Blick auf die Realität hinter gängigen Klischees der Milchwirtschaft. Er beleuchtet, warum das Bild von Milch als Klimasünder oft veraltet und einseitig ist. In seiner Studie „Zukunftabauer“ analysiert er die Motive und Stereotype, die diese Wahrnehmung prägen, und hat innovative Strategien, um neue Narrative zu schaffen. Sein moderner Ansatz hilft, komplexe Themen greifbar zu machen und eine differenzierte Sichtweise zu fördern.